
Bei den letzten Verhandlungen in Istanbul hat Kiew eine Liste mit den Namen von 339 Kindern vorgelegt, die angeblich nach Russland „deportiert“ wurden und die Kiew zurückhaben will. Warum nennt Kiew nur 339 Kinder, wenn die Ukraine und der Westen doch von fast 20.000 „deportierten“ Kindern reden? Von Thomas Röper
Die Behauptung, Russland habe tausende ukrainische Kinder deportiert, geistert seit Februar 2023 durch die Medien und wird immer wieder aufgegriffen.
Zuletzt kam die Meldung bei den letzten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul wieder auf, weil die Ukraine eine Liste mit den Namen von 339 angeblich entführten Kindern vorgelegt hat, deren Rückführung sie fordert.
Es stellt sich daher die Frage, warum die Ukraine nur eine Liste mit 339 Kindern vorgelegt hat, wenn es doch angeblich etwa 20.000 Kinder sein sollen.
Um das zu verstehen, müssen wir uns zunächst anschauen, woher diese Meldung ursprünglich kommt. Danach schauen wir uns an, wie westliche Medien erklären, warum die Ukraine nur 339 auf die Liste gesetzt hat. Und zum Schluss folgt noch ein sehr amüsanter Exkurs in die Arbeitsweise der westlichen Propaganda.
Woher die Geschichte der „deportierten“ Kinder kommt
Am 14. Februar 2023 wurde in den USA eine Studie mit dem Titel „Russlands systematisches Programm zur Umerziehung und Adoption von ukrainischen Kindern“ veröffentlicht, in der Russland vorgeworfen wird, es gebe in Russland ein „Netzwerk von Lagern und anderen Einrichtungen, in denen mindestens 6.000 Kinder aus der Ukraine auf der russisch-besetzten Krim und in Russland gehalten“ werden. Die westlichen Medien haben die Studie aufgegriffen und groß darüber berichtet.
Die Studie war vom Yale Humanitarian Research Lab, was natürlich sehr seriös klingt, schließlich ist Yale eine der renommiertesten Universitäten der USA. Allerdings gilt bei Studien, dass sie in der Regel genau das „herausfinden“, was der Geldgeber der Studie hören möchte. Daher ist die erste Frage bei Studien immer, wer sie in Auftrag gegeben und bezahlt hat. (Jetzt aufgepasst! Die NATO deckt ihre Angriffskarten gegen Russland auf. Die Verlegung der Soldaten wird schnell erfolgen)
Die Yale-Studie wurde vom US-Außenministerium bezahlt, denn das Yale Humanitarian Research Lab ist Teil des vom US-Außenministerium am 17. Mai 2022 ins Leben gerufenen Projektes Conflict Observatory, das vom US-Außenministerium eine Startfinanzierung von sechs Millionen Dollar dafür erhalten hat, angebliche russische Kriegsverbrechen zu melden.
Zu dem Projekt Conflict Observatory gehören noch andere Organisationen, zum Beispiel die US-Geheimdienste National Reconnaissance Office (NRO) und National Geospatial-Intelligence Agency (NGA).
Die Studie, die das Projekt über die angeblich verschleppten ukrainischen Kinder veröffentlicht hat, ist also eine Auftragsarbeit für das US-Außenministerium, die in Zusammenarbeit mit den US-Geheimdiensten entstanden ist.
In der Studie erfahren wir auch, wie sie zustande gekommen ist. Die Studie basiert auf Satellitenaufnahmen und öffentlich zugänglichen Daten, also Posts aus sozialen Netzwerken und so weiter. Die Autoren der Studie schreiben zum Beispiel ausdrücklich:
„Yale HRL führt keine Befragungen von Zeugen oder Opfern durch; es werden nur die spezifischen Informationen gesammelt, die in offenen Quellen verfügbar sind. (…) Ebenso führt Yale HRL keine Untersuchungen vor Ort durch und hat daher keinen Zugang zu den Lagern beantragt.“
Im Klartext bedeutet das, dass die Behauptung der Studie, Russland habe 6.000 ukrainische Kinder „verschleppt“, auf Basis von Satellitenbildern von Einrichtungen gemacht wurde, wobei aber niemand auch nur versucht hat, diese Einrichtungen zu besuchen, um herauszufinden, was sich dort tatsächlich befindet und wie es den Kindern (wenn da überhaupt welche sind) geht.
Außerdem wurden irgendwelche Posts aus sozialen Netzwerken genommen, wobei auch hier keiner der Autoren der Studie mit den Menschen gesprochen hat, die das gepostet haben, um herauszufinden, wer das gepostet hat und ob die Posts überhaupt der Wahrheit entsprechen.
Das bedeutet, dass die US-Regierung dafür bezahlt hat, dass eine Studie veröffentlicht wird, die auf keinerlei belastbaren Daten beruht. Eine Studie, die so erstellt wird, kann zu jedem vom Finanzier gewünschten Ergebnis kommen. Und genau das ist bei dieser Studie ja auch passiert.
Inzwischen hat die Ukraine die Zahl der angeblich von Russland entführten Kinder übrigens auf knapp 20.000 aufgeblasen und das Yale-Projekt nennt sogar noch größere Zahlen, aber dazu kommen wir gleich noch.
Wozu die Studie gebraucht wurde
Die Studie hatte natürlich den Zweck, die anti-russische Kriegspropaganda anzuheizen. Eine Grundregel der westlichen Kriegspropaganda ist es seit über hundert Jahren, Horrorgeschichten in die Welt zu setzen, die erzählen, wie der Feind Kinder quält. Das wirkt psychologisch besonders stark.
Im Ersten Weltkrieg haben die Briten die Geschichte in die Welt gesetzt, deutsche Soldaten würden fünfjährigen belgischen Jungen die rechte Hand abhacken, damit die niemals ein Gewehr gegen Deutschland in die Hand nehmen können, und vor dem ersten US-Krieg gegen den Irak wurde die Brutkastenlüge in die Welt gesetzt, um die Welt Kriegsbereit zu machen. Das waren nur zwei Beispiele.
Im heutigen Ukraine-Krieg sind es eben angeblich von Russland entführte Kinder, die Russland demnach gewaltsam russifizieren will.
Die Studie hatte aber noch einen anderen, weitaus wichtigeren Zweck, denn sie war der formal nötige Vorwand für den Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Dass das so war, zeigt ein Blick auf die Chronologie.
Am 14. Februar 2023 erschien die Studie.
Am 21. Februar wurde der IStGH-Richter Antoine Kesia-Mbe Mindua in der IStGH-Vorverfahrenskammer, bei der die Haftbefehle beantragt werden, durch den costaricanischen Vertreter (und Oxford-Absolventen) Sergio Gerardo Ugalde Godinez ersetzt, der dem Westen treu ergeben ist.
Ebenfalls am 21. Februar wurde der Bruder des IStGH-Anklägers Karim Khan, der neue britische Abgeordnete Imran Khan, der der Pädophilie beschuldigt wurde, vorzeitig aus einem englischen Gefängnis entlassen. Er hatte dort weniger als die Hälfte seiner Strafe abgesessen.
Am 22. Februar, also nur einen Tag später, hat IStGH-Ankläger Karim Khan eine Eingabe an die Vorverfahrenskammer geschickt, in die der Genehmigung der Haftbefehle gegen Putin und die russische Ombudsfrau für Kinderrechte beantragt wurde.
Mitte März kündigte London eine Geberkonferenz für den IStGH an, legte als Termin den 20. März fest und deutete dem Internationalen Strafgerichtshof offen an, dass vor diesem Termin Ergebnisse vorliegen müssten, wenn der IStGH britisches Geld sehen will.
Am 17. März, vier Tage nach der öffentlichen Ankündigung der Konferenz und drei Tage vor ihrem Stattfinden, stellte der IStGH den Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Ombudsfrau für Kinderrechte Lvova-Belova aus.
Und der Haftbefehl gegen Putin und die russische Ombudsfrau für Kinderrechte Lvova-Belova wird mit dem Vorwurf der massenhaften Deportation ukrainischer Kinder begründet, dessen Grundlage die vom US-Außenministerium finanzierte Studie war.
Warum sind nur 339 Kinder auf der Liste?
Natürlich hat der russische Chefunterhändler, nachdem die Ukraine die Liste übergeben hat, vor der internationalen Presse sofort darauf hingewiesen, dass sich die Zahl von 339 Kindern nicht mit den bis zu 20.000 Kindern deckt, von deren „Deportation“ die Ukraine heute spricht.
Er warf Kiew vor, mit der Liste „eine Show zum Thema verlorener Kinder zu veranstalten, die sich an gutherzige Europäer richtet“, und er fügte hinzu, dass es sich bei den Kindern auf der Liste nicht zwangsläufig um Kinder handle, die in Russland sind, sondern dass das eine Liste von Kindern sei, deren Aufenthaltsort der Ukraine unbekannt ist. Die Kinder könnten genauso gut in der Ukraine oder in europäischen Ländern sein. Aber Russland werde jeden Namen auf der Liste überprüfen.
Deutsche Medien haben darüber kaum berichtet, wahrscheinlich deshalb, weil die Zahl von 339 angeblich deportierten Kindern nicht dramatisch genug klingt und sich nicht mit den früheren Meldungen über 6.000 Kinder (US-Studie) oder fast 20.000 Kinder (heutige Behauptungen Kiews) deckt.
Bei der Suche nach Medienberichten auf Deutsch über die Liste bin ich auf einen Artikel von Euronews mit der Überschrift „Entführte ukrainische Kinder: Warum stehen nur 300 Namen auf der Liste?“ gestoßen. Euronews schreibt zunächst, die Ukraine habe „bis heute die Abschiebung von über 19.500 Kindern durch Russland nachweisen“ können und schreibt danach:
„Euronews-Quellen, die mit der Angelegenheit vertraut sind, sagten, Moskau sei bereit, 10 Kinder zurückzugeben, aber Kiew habe eine „andere Position und andere Erwartungen“, wenn es darum gehe, „guten Glauben bei der Fortführung des Friedensprozesses zu zeigen“.
Auf die Frage, warum Kiew keine umfangreichere Liste vorgelegt hat, da 339 Namen weniger als 2 Prozent der Gesamtzahl der gewaltsam entführten Kinder ausmachen, erklärten die Quellen von Euronews, dass das eine Entscheidung sei, die auf früheren Erfahrungen beruhe.
„Es besteht die Gefahr, dass Moskau versucht, Zeit zu gewinnen, indem es behauptet, die Überprüfung der Namen dauere länger, während es gleichzeitig versucht, die Identitäten der ukrainischen Kinder weiter zu ändern, was eine Rückverfolgung unmöglich macht“, sagte die Quelle.“
Euronews beruft sich offensichtlich ausschließlich auf ukrainische Quellen und stellt deren Aussagen als Tatsachen dar.
Propaganda außer Rand und Band
Danach schreibt Euronews:
„Die in den USA ansässige Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) erklärte unter Bezugnahme auf die Enthüllungen ukrainischer Menschenrechtsaktivisten, der Diebstahl der Kinder sei eine der Prioritäten des russischen Präsidenten Wladimir Putin.“
Wir halten fest: Das ISW hat gar nichts herausgefunden, sondern nur eine Behauptung aus der Ukraine wiederholt. Aber das ISW zu erwähnen soll die Behauptung offenbar seriöser klingen lassen.
Interessant wird es, wenn man sich die Meldungen des ISW anschaut, denn diese Behauptung hat das ISW am 18. Februar 2023 veröffentlicht. Sie passt also in die oben gezeigte Chronologie, denn sie kam nach der Yale-Studie vom 14. Februar und vor der Beantragung des Haftbefehls gegen Putin am 22. Februar. Sie hatte also ebenfalls den Zweck, den medialen Hintergrund für die Beantragung des Haftbefehls zu schaffen.
Am 24. März 2025 hat das ISW eine weitere Veröffentlichung mit dem Titel „Putin stiehlt weiterhin ukrainische Kinder“ veröffentlicht, in der wir unter anderem erfahren:
„Die Ukraine konnte bisher die Deportation von 19.456 Kindern durch Russland bestätigen, obwohl die tatsächliche Zahl vermutlich viel höher liegt, da Russland häufig schutzbedürftige Kinder ins Visier nimmt, ohne dass es jemanden gibt, der für sie spricht.[1] Das Humanitarian Research Lab der Yale University schätzte die Zahl der deportierten Kinder zum 19. März 2025 auf fast 35.000.[2]
Putins Kinderrechtskommissarin Maria Lvova-Belova (gegen die der Internationale Strafgerichtshof im März 2023 einen Haftbefehl wegen ihrer Rolle bei der Entführung von Kindern an der Seite Putins erließ) behauptete, Russland habe zwischen Februar 2022 und Juli 2023 700.000 ukrainische Kinder „aufgenommen“ – ein erschreckender Maßstab dafür, wie weit Russland zu gehen bereit ist, um die Ukraine seines eigenen Volkes zu berauben.[3]“
Ich habe in dem Zitat bewusst die Zahlen der Quellenangaben belassen, denn wir schauen uns als Beispiel mal die unter [3] genannten Quellenangaben an. Darunter sind zwei Quellen angegeben, das ist erstens eine Meldung des IStGH über den Haftbefehl und zweitens ein Artikel von Radio Liberty, also der von der US-Regierung finanzierten Staatsmedien.
Der Artikel von Radio Liberty ist vom 31. Juli 2023, also fast zwei Jahre alt, und trägt die Überschrift „Seit Beginn des Krieges wurden mehr als 700.000 ukrainische Kinder nach Russland verschleppt, sagen Offizielle“. Die Überschrift klingt schrecklich und das ISW hat sie in seinem Bericht von März 2025 wiederholt. Das Problem dabei ist, dass das ISW entscheidende Information dabei weggelassen hat, denn sogar bei Radio Liberty konnte man im Sommer 2023 erfahren:
„Die russische Kinderbeauftragte Maria Lvova-Belova erklärte, seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine seien mehr als 700.000 ukrainische Kinder aus der Ukraine nach Russland verschleppt worden. In einem am 30. Juli veröffentlichten Bericht erklärte Lvova-Belova, die große Mehrheit dieser Kinder sei in Begleitung ihrer Eltern und Verwandten nach Russland gekommen.“
Bis auf das Wort „verschleppt“ stimmt das alles, denn in dem Bericht, den die Kinderbeauftragte dem russischen Präsidenten im Sommer 2023 vorlegte, ging es darum, dass Russland seit Beginn der Eskalation 4,8 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine und dem Donbass aufgenommen hat. Darunter waren eben auch etwa 700.000 Kinder, die zusammen mit ihren Eltern nach Russland geflohen sind.
Aber das ISW macht daraus nach dem „Stille-Post-Prinzip“, Russland habe 700.000 Kinder „verschleppt“ und schreibt das im März 2025, was die Medien dann jederzeit zitieren können, wenn sie eine neue Horrorgeschichte präsentieren wollen, und das ISW hat auch gleich noch die mediengerechte Formulierung hinzugefügt, das sei „ein erschreckender Maßstab dafür, wie weit Russland zu gehen bereit ist, um die Ukraine seines eigenen Volkes zu berauben“.
Und solche „Denkfabriken“ werden von westlichen Medien wie Euronews als seriöse Quellen zitiert.
Quellen: PublicDomain/anti-spiegel.ru am 08.06.2025

