Pflegeheime in Deutschland: "Lassen Sie ihn, der liegt doch schon im Sterben"

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Die Entscheidung, pflegebedürftige Angehörige in ein Heim zu geben, fällt nicht leicht. Umso schlimmer, wenn sie statt Zuwendung Gewalt und Missachtung erfahren. Eine schockierende Nahaufnahme.

Am Ende war es dieser eine Satz, der die Entscheidung brachte. Er fiel an einem Nachmittag, als sie wieder einmal am Bett des Vaters standen, der schon lange nicht mehr aufstehen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass sie den Satz hörten, aber diesmal sagte ein Pfleger ihn einfach so, vor allen, über das Bett hinweg: „Nun lassen sie ihn doch, er liegt doch schon im Sterben.“ (Foto von Angehörigen und die Verletzungen des Vaters)

Stephan M. war zu diesem Zeitpunkt 91 Jahre alt und konnte nicht mehr viel. Im Heim war er zu einem gebrechlichen Menschen geworden. Hören aber konnte er noch sehr gut. Die Kinder nahmen den Vater aus dem Heim. Trotz all der Beschwernisse, die das für den alten Mann bedeuten würde.

Monatelang hatten sie da schon mit sich gerungen: Sollten sie für den Vater in diesem Alter und in diesem Zustand wirklich noch einmal ein neues Zuhause suchen? Würde er das überleben? Andererseits: Musste er nicht einfach nur heraus aus diesem Heim, in dem er seit Wochen – wie die Kinder sagen – nicht mehr richtig gewaschen wurde, manchmal über Stunden im eigenen Kot und Urin gelegen hatte und kaum noch Essen bekam?

Wo er nur noch im Bett lag, weinte und wimmerte, den Körper übersät mit blauen Flecken, die Hände zu Fäusten geballt. Niemand von den Pflegern konnte oder wollte ihnen erklären, woher die blauen Flecken stammten, woher die offenen Stellen an seiner Haut. Die Kinder hatten Angst um den Vater. Am Ende trauten sie sich nicht mehr, ihn allein zu lassen.

Wahr ist aber auch: Es war bestimmt nicht einfach für die Pfleger mit dem verängstigten alten Mann. Nach einem Schlaganfall konnte er nicht sehen, konnte kaum noch sprechen, einen Arm nicht mehr bewegen, nicht selbst laufen. Vielleicht schubste er die Männer und Frauen, die sich um ihn kümmerten, manchmal vor Schreck weg. Etwa wenn er ohne Vorwarnung angefasst wurde. Vielleicht wehrte er sich, wenn er gehoben werden sollte.

Wenn Stephan M.s Tochter Doris und ihre Schwester Brigitte K. über das sprechen, was ihr Vater über vier Jahre im Heim erlebt hat, steigen der einen die Tränen auf, die andere braucht immer mal wieder eine Zigarettenpause, um sich zu sammeln. Selbst jetzt noch, zwei Jahre danach. Ihr Vater ist inzwischen gestorben – vor einem Jahr, glücklich und zufrieden, sagen seine Kinder, in einem anderen Altenheim.

Opfer von Gewalt und schweren Pflegefehlern

Die beiden Schwestern sitzen in einem Café nahe dem Bremer Hauptbahnhof. Sie und der Rest der Familie sind sicher: Der Vater muss im Heim Opfer von Gewalt und schweren Pflegefehlern geworden sein. Davon zeugten die Spuren an seinem Körper. Und die Tatsache, dass der Vater, der kaum noch sprechen konnte, sich vor manchen Pflegern richtiggehend fürchtete. „Am Schluss hatten wir einfach nur noch Angst um sein Leben“, sagt Doris M. „Wir haben alles aufgeboten an Freunden und Bekannten, damit er nicht unbewacht den Pflegern ausgeliefert ist.“

Die Geschichte von Stephan M. spielt sich tausendfach und ganz ähnlich jeden Tag in Deutschland ab. Davon zeugen Untersuchungen der Pflegekassen, Protokolle der staatlichen Aufsichtsbehörden und die Erfahrung vieler Angehörigenverbände. Nicht nur körperliche Gewalt ist weitverbreitet, sondern auch die sogenannte strukturelle – also die systematische Vernachlässigung der Alten.

36.000 Menschen, so viele wie die Bewohner einer Kleinstadt, leiden laut offiziellen Schätzungen in deutschen Pflegeheimen Hunger oder Durst, weil niemand Zeit hat, ihnen beim Essen oder Trinken zu helfen. 14.000 Menschen werden an Bett und Rollstuhl gefesselt, ohne dass die Pfleger dafür eine Genehmigung haben. Fast eine Viertelmillion Demenzkranker wird mit Psychopharmaka ruhiggestellt.

Harte Strafen, etwa Berufsverbote, gibt es in der Altenpflege dennoch fast nie. Die deutsche Gesetzgebung sieht das einfach nicht vor. Der Fall von Stephan M. ist ein gutes Beispiel dafür, warum die Strafverfolgungsbehörden nur wenig ausrichten können. Selbst dann nicht, wenn Pflegefehler und Vernachlässigungen sich beweisen lassen.

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Der Fall von Stephan M. ist genau dokumentiert. Seine Tochter Doris, die drittjüngste von acht Kindern, hat drei Jahre lang Protokoll geführt über das, was ihrem Vater und anderen Bewohnern dieses Heims dort zugestoßen ist: dass die Pfleger die Bewohner duzten; dass sie einfach grob zupackten, anstatt die alten Menschen vorzuwarnen, wenn Pfleger sie anfassen, umbetten oder ihnen Augentropfen verabreichen wollten; dass sie immer wieder vergaßen, Medikamente zu geben. Alles eklatante Pflegemängel.

Protokoll von Tochter Doris M., 17.12.2011.

„Vaters Geburtstag. Vater weint nur noch, sagt immer ‚Aua, aua‘, hält die Hand auf den Genitalbereich. Wir gucken nach und sehen handtellergroße Wunden auf beiden Seiten der Leiste und der Oberschenkel. Das Pflegepersonal hat das überhaupt noch nicht gesehen.“

Als Doris M. diesen Eintrag in das Protokoll in ihrem Computer schreibt, ist es gerade einmal zwei Jahre her, dass der Vater noch tanzen ging. Doris M. und ein paar ihrer Geschwister hatten ihn damals ins Auto gesetzt und zu einem Schützenfest gefahren.

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Mitsingen konnte er zwar nicht mehr, erzählt ihre Schwester Brigitte, „aber immerhin mitbrummen“. An diesem Abend, sagt sie, stand er aus seinem Rollstuhl auf und tanzte mit seiner Tochter. Ein Mitarbeiter der Lokalzeitung fotografierte sie. In der Bildunter-schrift stand nachher: „Tanzen trotz Rollstuhl. Dieses Paar genoss die Senioren-Kaffeetafel im Festzelt.“

Ermittlungen ergebnislos eingestellt

Im Heim baute der Vater innerhalb weniger Monate dramatisch ab. Im Protokoll von Doris M. steht, dass die Pfleger ihn manchmal tagelang nicht wuschen und er deshalb teilweise schon richtig stank. Dass er die Zähne nicht geputzt bekam. Und dass er öfter in der durchnässten Kleidung des Tages schlafen musste, weil die Pfleger keine Zeit hatten, ihn umzuziehen. Die Verletzungen am Körper des Vaters hat Doris M. sogar fotografiert.

Trotzdem stellte die Staatsanwaltschaft vor ein paar Wochen die Ermittlungen gegen vier Pfleger des Heims ergebnislos ein. In der Begründung schreibt die Staatsanwaltschaft, es sei nicht klar, ob die Pflegemängel, die es ohne Zweifel gegeben habe, „strafrechtliche Relevanz“ hätten. Und selbst wenn: Es sei nicht klar zuzuordnen, welcher Pfleger dem Vater welche Verletzung zugefügt habe.

Dass die Zahl der Gewaltdelikte in Heimen weiter ansteigen wird, ist wahrscheinlich. Denn im Jahr 2050, wenn die heute 40- bis 50-Jährigen potenziell pflegebedürftig sind, wird sich die Zahl der insgesamt Pflegebedürftigen etwa verdoppelt haben. Brutaler Umgang mit Bewohnern, dazu gehört auch die systematische Erniedrigung alter Menschen, ist schon jetzt ein Massenphänomen, sagt der renommierte Bonner Gerontopsychiater Rolf D. Hirsch. Genaue Statistiken darüber gibt es aber nicht.

Denn was sich zwischen Pfleger und Gepflegtem abspielt, bleibt oft hinter verschlossenen Türen. Alte, kranke Menschen, zum Beispiel Demenzkranke, können Pfleger, die sie erniedrigen oder schlagen, nicht mehr verraten. Und selbst wenn: Wer würde ihnen glauben? Gerade dann, wenn das Heim offiziell gut bewertet ist. Die Einrichtung, in der Stephan M. lebte, hat von den Prüfern der Pflegekassen zuletzt die Schulnote 1,1 bekommen. Sehr gut.

Das stellt auch die Aufsichtsbehörden und die Staatsanwaltschaften vor große Probleme. Ob ein alter Mensch Opfer von Gewalt geworden ist, lässt sich fast nie beweisen. Und ist es doch einmal der Fall, heißt das noch lange nicht, dass es auch zu einer Verurteilung kommt. „Im deutschen Strafrecht spielt die Verurteilung wegen Pflegefehlern oder Vernachlässigungen kaum eine Rolle“, sagt der Hamburger Rechtsanwalt Ronald Richter, der sich auf Pflegerecht spezialisiert hat.

Abgesehen von Fällen vorsätzlicher Gewaltanwendung und Körperverletzung, sei die Beweisführung schwierig. Es müsse belegt werden, dass der Körperschaden allein durch die mangelnde Pflege verursacht worden ist. Da aber eigentlich immer mehrere Ursachen vorlägen, bliebe den Richtern oft nichts anderes übrig, als die Beschuldigten aus Mangel an Beweisen freizusprechen. „Da machen sich viele Familien mit Pflegebedürftigen vergeblich große Hoffnungen auf die strafrechtliche Verfolgung.“

Pflegerin macht bundesweit Schlagzeilen

Stephan M.s Wohnort Bremen ist auch die Stadt, aus der Doreen R. stammt, Deutsch-lands wahrscheinlich bekannteste Altenpflegerin. Vor etwas über einem Jahr ging ein Filmschnipsel mit R. als Hauptdarstellerin durch die Nachrichten- und Boulevard-fernsehsendungen der Republik. Darauf war zu sehen, wie sie einer alten Frau an den Haaren zog und sie mit einem Ruck zurück aufs Bett stieß. Dabei zischte sie die pflegebedürftige Frau an: „Nimm doch mal die Flossen weg!“

Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen. Allerdings nicht, weil er in irgendeiner Form außergewöhnlich gewesen wäre. Sondern, weil er sich beweisen ließ. Die Kinder der misshandelten Patientin hatten eine versteckte Kamera im Zimmer der Mutter installiert und damit die Übergriffe dokumentiert. Ende August wurde Doreen R. vor dem Bremer Amtsgericht der Prozess gemacht.

Ihre Verteidigerin hatte bis zuletzt dagegen gekämpft, dass das heimlich aufgenommene Video als Beweismittel im Prozess verwendet werden durfte. Das Gericht ließ es letztendlich zwar zu, trotzdem reichte es gerade einmal zu einer Geldstrafe von 2080 Euro. Für ein Berufsverbot, wie es die Familie der alten Dame hatten erreichen wollen, fehlten laut dem Richter die rechtlichen Voraussetzungen. Im Fall von Stephan M. reichte es nicht einmal für eine Anklageerhebung.

Wenn Doris M. und Brigitte K. von ihrem Vater erzählen, nennen sie ihn meist nord-deutsch „Vaddern“. Obwohl er nur selten zu Hause sein konnte, als sie Kinder waren, lassen die beiden nichts auf ihren Vater kommen. Schließlich war M. Vater von acht Kindern und musste viel arbeiten, oft Überstunden machen, um die Familie mit seinem Job als Dreher und Fräser versorgen zu können.

Nie habe man ihn darüber klagen hören, sagen die Kinder. Wenn er zu Hause war, sagen sie, habe er sich nicht zurückgezogen und seine Ruhe gesucht. Er habe versucht, den Kindern möglichst viel mitzugeben. Mit seinen Söhnen und deren Freunden bastelte er dann an deren Mofas, mit den Töchtern zeichnete er, nahm sie mit in den Wald, Pilze sammeln oder Blaubeeren pflücken; zeigte den Kindern, wie man Pflanzen veredelt. „Sein ganzer Stolz war der ‚Bapfel‘, den er selbst züchtete, indem er einen Apfelzweig auf einem Birnbaum zum Anwachsen brachte“, erzählt Doris M.

Und charmant sei er gewesen, der Vater. In den ersten Jahren im Bremer Altenheim spazierte er mit seinen Kindern häufig zum nächsten Supermarkt und steuerte dann immer als Erstes das Regal mit den Süßigkeiten an, wo er kleine Schokoladentafeln von „Ritter Sport“ in den Einkaufswagen legte. Die brauchte er, um sie an die alten Frauen im Pflegeheim weiterzuschenken.

Protokoll von Doris M., 13. Dezember 2011.

„Aus unserem Vater, der immer Vertrauen zu anderen Menschen hatte, wurde in den letzten Monaten ein misstrauischer, sehr ängstlicher Mensch, der oft weinte, aber nicht mehr genau sagen konnte, was ihm passierte. Er zuckte bei Berührungen ängstlich zurück, das machte uns stutzig.“

Lässt sich das, was die Familie erlebt hat, wirklich damit erklären, dass man im Alter nun einmal körperlich und geistig abbaut? Dass bei alten Menschen die Haut empfindlicher wird gegenüber festen Handgriffen, wie sie in der Pflege manchmal nötig sind? So zumindest erklären es Heimleitung und Pfleger. Aber da ist noch Karel S. (Name ge-ändert), jener Pfleger, von dem die beiden Töchter von Stephan M. sagen, vor ihm habe der Vater besonders viel Angst gehabt. „Wenn der allein mit ihm im Zimmer war, dann sagte Vater danach manchmal leise vor sich hin: ‚Dieser Hund!'“ Mehr sagte er nicht. Und anscheinend war er nicht der Einzige, der sich besonders vor dem Pfleger Karel S. fürchtete.

Protokoll von Doris M., 11.4.2011

„Frau M., die immer Punkt 15.30 Uhr ihre Kautablette fordert, wird von Pflegerin F. auf dem Flur laut angeschrien, dass sie nicht weiter nerven solle, sonst müsse sie von jetzt an im Zimmer bleiben oder man würde Karel holen und dann würde sie schon sehen.“

Karel S.‘ Nummer steht im Telefonbuch. Er meldet sich. Sagt zuerst, er wolle über den Fall gar nicht mehr reden. Dann redet er doch. „Hören Sie mir auf mit Herrn M. Ich habe so viel für ihn gegeben, ich war mit meiner Kraft am Ende – und dann bekomme ich als Dank eine Anzeige zurück.“ M. sei einer der anstrengendsten Patienten gewesen, die er je erlebt habe: „Der hat gekratzt, ständig nach mir geschlagen.“

Auch Pfleger erleben Gewalt

Tatsächlich ist auch Gewalt von Pflegebedürftigen an Pflegern ein weitverbreitetes Phänomen in der Pflege. Laut einer Befragung, die der Bonner Gerontopsychiater Hirsch vor Kurzem vorstellte, erleben zwei Drittel aller Pfleger im Laufe eines Jahres Gewalt durch die Heimbewohner – vor allem verbale oder seelische. Jeder dritte hat demnach erlebt, dass ein Bewohner handgreiflich geworden ist. Die Kinder anderer ehemaliger Heimbewohner sagen jedoch, im Fall von Stephan M. könnten sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Sie hätten ihn nie als aggressiv erlebt.

Pfleger Karel S. sagt am Telefon, die Töchter, vor allem Doris M., hätten den Pflegern das Leben schwer gemacht mit ihrer ständigen Einmischerei. Dann sagt S. noch, morgen habe er bis 14 Uhr Dienst. Man könne ihn im Heim treffen und dann ausführlicher reden.

Das dreistöckige Pflegeheim liegt in einer Arbeitersiedlung aus den 50er-Jahren. Es ist halb zwei, Mittagsschlafzeit. Das Heim wirkt wie ausgestorben. Die Empfangskabine ist dunkel und leer, niemand hält einen auf, um zu fragen, zu wem man möchte. Im unteren Stockwerk ist niemand anzutreffen, auch die oberste Etage wirkt menschenleer. Erst in der mittleren Etage findet sich eine Pflegerin. Ob sie sagen könne, wo Karel S. sei? Sie sagt, die anderen Pfleger seien alle in einer Besprechung im Speisesaal.

Durch das Fenster in den Saal sieht man, wie etwa ein Dutzend Pfleger zusammensitzen. Ein paar von ihnen wenden die Köpfe und blicken misstrauisch in Richtung der Reporterin. Schließlich kommt ein hochgewachsener, breitschultriger Pfleger auf den Flur. Es ist nicht Karel S., wie sein Namensschild verrät. Er sagt: „Wir haben schon mit Ihnen gerechnet. Wir dürfen leider nicht mit Ihnen sprechen. Das ist eine Anweisung der Geschäftsführung.“

Der Pfleger sagt, man solle ins Büro der Heimleiterin gehen, „sie sitzt dort und wartet auf Sie“. Im Büro allerdings sitzt nur die Sekretärin, eine stark geschminkte ältere Dame mit blauem Lidschatten. Sie sagt, die Heimleiterin sei nicht da, die Reporterin müsse das Gebäude nun verlassen und sich für weitere Fragen an die Geschäftsführung wenden.

Eine Woche später. Gesprächstermin mit dem Geschäftsführer der Heimkette, der Residenz-Gruppe. Die Hauptverwaltung hat ihre Büros in einem neu angelegten Büro-viertel am Europahafen. Alte Hafengebäude, die zu modernen Lofts umgebaut sind, eine Promenade mit riesigen Pflanzenkübeln, aus denen Palmen wachsen, Bars mit Lounge-Möbeln. An der Klingel ist eine Kamera angebracht. Wer hoch darf, dem schickt die Empfangsdame einen Aufzug nach unten. Oben sitzt der Geschäftsführer, zusammen mit einem weiteren Manager der Kette und der Heimleiterin, in einem hellen Besprechungsraum. Sie trinken Latte Macchiato.

„Völlig haltlose Vorwürfe“

Das Heim gehört zu einer privatwirtschaftlichen Pflegekette. Der Gründer, Rolf Specht, ist in der Branche bekannt. Ein lokaler Unternehmerverband wählte den stets gut gebräunten, eloquenten Mann 2010 zum „Unternehmer des Jahres“ und überreichte ihm als Trophäe ein hölzernes Steuerrad – mit dem dieser sich stolz für Pressefotos ab-leuchten ließ. Spricht man seitdem andere Pflegeketten-Chefs auf ihn an, nennen die ihn den „Weser-Kapitän“ oder ahmen die Geste vom Foto nach: Specht grinsend am Steuerrad.

In einem Interview mit einem Branchenmagazin sagte der Firmengründer einmal, sein Motto habe er von Udo Lindenberg übernommen: „Andere denken nach, wir denken vor.“ Zuletzt hat seine Gruppe für Schlagzeilen in der Region gesorgt, weil sie versuchte, einen Teil ihres stationären Pflegegeschäfts an einen Investor zu verkaufen. Der Deal platzte, weil man sich nicht auf einen Preis einigen konnte.

Die Presseanfrage beantwortet der Geschäftsführer der Residenz-Gruppe Christian Nitsche. Der sagt beim Interviewtermin in der Hauptverwaltung, von einem Pflege-skandal im Fall von Stephan M. könne keine Rede sei. Vielmehr sei es die Tochter Doris M., die „völlig haltlose Vorwürfe“ erhoben habe.

Im ganzen Unternehmen sei ihm kein Fall bekannt, in dem ein Angehöriger über Jahre hinweg immer wieder solch schwere Vorwürfe erhoben habe. „Dieser Vorgang füllt bei uns vier oder fünf Leitz-Ordner.“ Er sagt, es sei „absolut ernüchternd“, dass selbst jetzt, nachdem mehrere Prüfungen durch Heimaufsicht, MDK und Pflegekassen die Vorwürfe nicht bestätigt hätten und auch die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt habe, dieser Fall die betroffenen Pfleger noch immer nicht loslasse, weil jetzt auch noch die Presse nachfrage. „Glauben Sie wirklich, dass wir nicht alles in unserer Macht Stehende getan hätten, um die gegen uns erhobenen Vorwürfe abzustellen?“, fragt er. Aus Sicht des Geschäftsführers sind in diesem Fall die Pfleger die Opfer.

Über den Alltag in den rund 11.000 deutschen Altenpflegeeinrichtungen erfahren die meisten Menschen nur aus den Medien. Und zwar dann, wenn Pflegekassen und staatliche Aufsichtsbehörden schlechte Pflegequalität in großem Stil aufdecken. In Mainz gab es vor ein paar Wochen einen solchen Fall: In einem Heim der Pflegekette Casa Reha, die international agierenden Finanzinvestoren gehört, trafen staatliche Heimaufseher 20 Bewohner an, die stark dehydriert waren – offenbar, weil die Pfleger zu wenig Zeit hatten, den alten Menschen beim Trinken zu helfen.

Über die dahinterstehende Heimkette hatte die „Welt am Sonntag“ bereits vor rund drei Jahren ausführlich berichtet. Die Renditeerwartungen der Investoren, sagen Branchen-kenner, sollen dort angeblich immer wieder zu ähnlichen Missständen führen. Als Reaktion auf den erneuten Skandal bei Casa Reha kündigte der rheinland-pfälzische Sozialminister Alexander Schweitzer (SPD) nun ein neues Gesetz an, durch das die Landesregierung den Pflegeheimen künftig stärker in die Bücher blicken dürften – um nachzuprüfen, ob zugunsten des Gewinns am nötigen Personal gespart wird.

Zu wenige Fachkräfte

Die Kritik, die dahintersteht, ist eindeutig: Nicht der einzelne Pfleger, der schlägt, schubst, festbindet und beleidigt ist schlecht. Sondern die Umstände sind es, in denen er lebt. Doch stimmt das? In der Pflegebranche ist dies eine Frage, über die Vertreter von Angehörigen, Pflegern, Heimen und Politik sich immer wieder in die Haare geraten. Die einen sagen, manche Menschen – Doreen R., vielleicht auch Karel S. – hätten in der Pflege einfach nichts verloren. Die anderen sagen: Wer ständig überfordert ist, weil er unbezahlte Überstunden schieben muss und dauernd allein für 30 alte, schwer kranke Menschen die Verantwortung trägt, der muss irgendwann einfach die Nerven verlieren.

Beides stimmt, glaubt der Pflegeexperte Reinhard Leopold. Natürlich müssten Pfleger besondere Eigenschaften mitbringen, müssten einfühlsam sein, fair, teamfähig und fachlich kompetent – sonst seien sie nicht richtig in diesem Beruf. „Da es aber zu wenige Pflegekräfte gibt, müssen die vorhandenen ständig gegen die Uhr kämpfen, von einem zum anderen hetzen, und gehen abends trotzdem mit einem unguten Gefühl nach Hause, weil nur Zeit für Satt- und Sauber-Pflege war. Das führt zu Überforderung, Frustration, zum Teil auch zu Abstumpfung und Verrohung.“

Leopold, ein drahtiger Mann mit wachen, blauen Augen und analytischer, leiser Stimme, engagiert sich seit über zehn Jahren ehrenamtlich in der Interessenvertretung der Familien von Pflegebedürftigen – nachdem er selbst seine Eltern über Jahre in Heimen begleitete.

Es gibt eine Reihe von Angehörigen wie Leopold, die damit angefangen haben, sich zu wehren, sich zu organisieren. Der Bekannteste ist der Münchner Claus Fussek, der häufig im Fernsehen auf die Zustände in der Pflege schimpft. Das Problem ist, dass die meisten dieser Interessenvertreter Einzelkämpfer sind, die in abgesteckten deutschen Regionen ihren Zuständigkeitskreis hegen und pflegen. Eine starke, bundesweite Interessenver-tretung für die Familien von Heimbewohnern gibt es nicht. Warum nicht? Eine Leser-briefschreiberin, die sich vor ein paar Wochen an die „Welt am Sonntag“ gewandt und ihre schlimmen Erlebnisse mit der Mutter im Heim geschildert hat, schreibt, es müsse ein „Altenschutzbund“ her.

Leopold und andere Angehörigenvertreter argumentieren, dass es zu Pflegeskandalen einfach zwangsläufig kommen muss und dass es in Zukunft wohl eher mehr werden als weniger. Vielleicht, weil in Deutschland einfach viel zu wenig Geld zur Verfügung steht, um die rund zweieinhalb Millionen Pflegebedürftigen im Land zu versorgen. Weil die Pflegekassen mit dem Geld so knapp kalkulieren müssen, dass gute Pflege einfach nicht finanzierbar ist. Weil die Altenpfleger in ihren Jobs so zerrieben würden, dass es schon lange nicht mehr genügend von ihnen gibt – und die übrig gebliebenen häufig ihre Empathie verlieren, nicht mehr wahrnehmen, dass das Menschen sind, an denen sie da ihre Arbeit verrichten.

Protokoll von Doris M., 13.12.2011

„Weil Vater bei der Pflege so schreit, verlassen wir das Zimmer nun nicht mehr und sehen, was passiert. Ohne mit ihm zu sprechen (mein Vater ist blind) wurde er mit dem Laken mit Schwung so herumgerissen, dass er mit dem Gesicht gegen das Bettgitter knallte. … Danach sollte Vater im Bett hochgezogen werden. Wieder wurde er nicht vorgewarnt, sondern zwei Pfleger packten das Laken und „auf drei“ schoss mein Vater mit dem Kopf oben gegen den Bettrahmen, dass es knallte. So also entstanden die blauen Flecken oben auf dem Kopf, die ich mir nie erklären konnte. Auf meinen Protest hin meldete sich die Pflegerin am nächsten Tag krank. Sie könne nicht arbeiten, wenn jemand zuguckt, sie fühle sich kontrolliert.“

Den harschen Umgang mit den Bewohnern hat auch Pflegerin Irene H. (Name geändert) erlebt, die mehrere Jahre lang in dieser Einrichtung gearbeitet hat. „Einer der Pfleger machte sich einen Spaß daraus, nachts in die Zimmer der schlafenden Bewohner zu gehen, das Licht einzuschalten und laut in die Hände zu klatschen“, sagt H., die ihre Schilderungen der „Welt am Sonntag“ gegenüber per eidesstattlicher Versicherung erklärt hat. Eine andere Pflegerin – eine der vier Angestellten des Heims, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelte – überraschte Irene H. laut ihrer Schilderung, wie diese eine alte Dame, die offenbar nicht duschen wollte, nackt auf den Boden ihres Bade-zimmers gelegt hatte. „Sie hat die Frau wie ein Stück Vieh abgeduscht“, sagt H.

Vielleicht kann man im Nachhinein sogar sagen, dass Stephan M. Glück im Unglück hatte. Sieben seiner acht Kinder wohnen noch in der Umgebung, und jeden Tag war mindestens eines davon zu Besuch. Fragt man die Betreiber anderer Heimketten, berichten diese, dass vielleicht gerade mal jeder fünfte Alte in einem Heim überhaupt Besuch von Angehörigen bekommt. Die allermeisten müssen allein da durch. Je mehr Singles es in einer Gesellschaft gibt, umso mehr Alte gibt es in Heimen, die niemals jemand besucht.

Dicht gewebtes Versorgungsnetz

Doch Stephan M.s Kinder kamen, jeden Tag. Halfen ihm beim Essen, gingen mit ihm mit dem Rollator spazieren, später mit dem Pflegerollstuhl. Kauften ständig dringend nötige Dinge ein, für die eigentlich das Heim zuständig gewesen wäre, sagt Doris M.: Wasser, damit der Vater genug zu trinken hatte. Obst, damit er auch mal Vitamine zu essen bekam. Immer wieder Suppenschüsseln, Teller oder Teelöffel für die ganze Station, weil die nicht reichten.

Gardinen als Sonnenschutz für den Speiseraum, in den die Sonne knallte. Unterhosen, Hosen und Pullover, weil die plötzlich alle verschwunden waren, obwohl sie erst letzte Woche welche gekauft hätten. Wären M.s Kinder nicht so präsent gewesen, wäre das Ganze wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. „Die alten Menschen saßen teilweise stundenlang völlig ohne Ansprache am Tisch“, sagt Doris M. Also brachten sie CD-Spieler und Musik, Fernseher, Videorekorder und Filme mit.

Protokoll von Doris M., 23.5.2011

„Fehlende Medikamentengabe, fehlende Medikation. Durchzug trotz Husten. Dekubitus am Gesäß, das Pflegepersonal hat das angeblich nicht gesehen. Trotzdem weiterhin durchnässte Hosen und Bett. Schwarzer Dekubitus an der rechten Ferse, über den Thrombosestrumpf gezogen wird. Vater stinkt, wird nicht gewaschen.“

Es gibt einen Grund dafür, warum die Kinder von Stephan M. ihren Vater im Heim so außergewöhnlich umsorgten. Schon Jahrzehnte zuvor, mit Mitte 50, war die Mutter schwer krank geworden, hatte über Monate hinweg im Bett liegen müssen, bevor sie starb. Zwar ist das schon 30 Jahre her – und doch ist es wichtig, um die Familie zu verstehen. Bis zuletzt, sagt Doris M., solle der Vater am Leben teilnehmen können.

Als er alt wurde, bauten die Geschwister deshalb für ihn nach und nach ein dicht ge-webtes Versorgungsnetz auf. Einer der Söhne führte Regie. Er erstellte eine Excel-Liste im Computer, auf der stand, welches Kind wann für die Wäsche zuständig war, wann dem Vater in seiner Wohnung Gesellschaft leisten solle, wann für ihn einkaufte oder kochte. Über Jahre funktionierte das, selbst noch, als er langsam blind wurde. Irgendwann waren sich jedoch Geschwister und Vater einig, dass das Alleinleben für ihn zu gefährlich werde. Also gingen sie auf die Suche nach dem besten Heim, sagen sie, schauten sich fast jede Einrichtung in der Stadt an, über Monate hinweg. „Unser Vater war immer dabei, der fand das sogar ganz lustig“, sagt Brigitte K.

Ausgerechnet dieses eine Heim gefiel der Familie besser als alle anderen. „Damals gab es noch einen jungen, motivierten Heimleiter und ein Wohngruppen-Konzept – das heißt, immer eine Handvoll Bewohner lebte wie eine kleine Familie zusammen“, sagt Doris M., und ihre Stimme klingt dabei, als müsse sie sich entschuldigen. „Es konnte ja niemand ahnen, dass das kurz danach abgeschafft würde.“ Für die Bewohner änderte sich damit einiges. Zum Beispiel mussten Rollstuhlfahrer zum Essen jetzt auf eine andere Etage gebracht werden und danach manchmal über eine Stunde warten, bis sie wieder abgeholt wurden.

Mit dieser Umstellung kippte die Stimmung, sagen Doris M. und ihre Schwester. Auch gegenüber den Angehörigen, besonders den M.s. Vielleicht zogen sich die Geschwister den Zorn der Belegschaft zu, weil sie im Gegensatz zu anderen Angehörigen öfter mal nachfragten, wie es sein könne, dass die Pillen schon wieder fehlten, vertauscht waren oder unter dem Tisch verstreut lagen.

Vielleicht nervte die Pfleger aber auch einfach die Tatsache, dass jeden Tag einer der M.s da war und anderen Heimbewohnern Hilfe anbot? Die damalige Heimleiterin habe tatsächlich einmal zu ihr gesagt: „Hier sind ja bald schon mehr Angehörige als Bewohner, das geht nicht“, sagt Doris M. Brigitte K. sagt, an heißen Tagen hätten sie zum Beispiel auch anderen Bewohnern Wasser angeboten. „Die alten Leute schwitzten, saßen aber vor leeren Gläsern.“ Mehr trinken bedeutet aber für die Pfleger, dass sie die Alten auch häufiger zur Toilette bringen müssen.

Protokoll Doris M., 1.10. bis 22.11.2011

„Beim Umziehen sehen wir, dass das rechte Knie blau ist, es tut weh. Keine Erklärung dafür. Gleiches gilt für die blauen Flecken am rechten Bein. Rechter Unterarm blutet, linkes Bein ist unten blau, sieht aus wie aufgeschürft. Auch für ein sehr großflächiges Hämatom am linken Pobereich bekommen wir keine Erklärung. Es ist kein Sturz dokumentiert (wie auch, er liegt ja im Bett).“

Ihr Protokoll, sagt Doris M., habe sie angefangen, als die Situation zwischen den Ange-stellten des Heims und den Angehörigen schon eskaliert war. „Wir wurden dort richtig angefeindet. Der große Präsentkorb, den wir wie immer zu Weihnachten im Dienst-zimmer für das Personal abgaben, stand am nächsten Tag wieder kommentarlos im Zimmer unseres Vaters. Auf Nachfrage sagte man uns, Geschenke von uns seien nicht mehr erwünscht.“ Man habe die Familie nicht mehr gegrüßt, es habe böse Blicke gegeben, Gespräche mit der damaligen Heimleiterin und Pflegedienstleiterin, in denen Doris M. zum Weinen gebracht wurde.

„Dann packen Sie Ihren Vater doch in Watte!“

Immer wieder habe sie allein zwei oder drei Vertretern des Heims gegenübergesessen, und die hätten sie regelrecht runtergemacht. „Die Behauptung war grundsätzlich, ich wäre angeblich die einzige Person im gesamten Heim, die Ärger mache. Von anderen Angehörigen würde es solche Beschwerden nie geben.“ Dabei tauschte Doris M. sich damals schon regelmäßig mit den Kindern anderer Bewohner aus, die dort ganz Ähnliches erlebt haben.

Einmal habe sie die Pflegedienstleiterin, die Verantwortliche für die Qualität der Pflege im Heim, gefragt, woher ihr Vater die blauen Flecken habe. Diese habe daraufhin nur lapidar gesagt: „Dann packen Sie Ihren Vater doch in Watte!“ Die Heimleiterin habe ihr eines Tages die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt, sie solle jetzt einmal konkrete Namen von Pflegern nennen, die ihrer Meinung nach brutal mit dem Vater umgingen. Sie habe das tatsächlich getan, sagt Doris M. – und es später bereut. Die Verletzungen seien danach noch mehr geworden.

Protokoll von Doris M., 1.12.2011

„Auseinandersetzung mit Nachtpfleger D., der Vater so brutal anpackt, dass ich ihm das untersage. Bitte ihn, mit Vater zu sprechen, zu erklären, was er mit ihm vorhat. Antwort: ‚Der ist dement, der versteht das sowieso nicht.'“

Stephan M. war aber nicht dement. Eine entsprechende Diagnose hat er nie erhalten. Eine Bremer Einrichtung für Demenzkranke, bei der die Familie sich beworben hatte, musste ihn deshalb sogar ablehnen. Er war einfach nur blind und konnte kaum sprechen.

Beim Gespräch in der Hauptverwaltung sagt der Geschäftsführer, so schlimm wie behauptet könne es nicht gewesen sein in dem Heim. „Sonst hätte Frau M. ihren Vater sicher nicht fast vier Jahre dort gelassen.“ Das findet auch die Heimleiterin. Das Klima in ihrer Einrichtung unterscheide sich nicht von anderen, sagt sie. Das Team funktioniere gut, immerhin seien viele der Pfleger schon lange dort.

Die M.s sind aber nicht die einzigen Angehörigen, die von einem rauen Umgangston in der Einrichtung und von Vernachlässigung berichten. Auch Gerhard R. holte seinen Vater heraus – so wie fast ein Dutzend Angehöriger während weniger Monate. „Sie haben dort meinem Vater systematisch abgewöhnt, auf die Toilette zu gehen“, sagt er. Wenn der an den Rollstuhl gefesselte Mann nach Pflegern klingelte, kam niemand, sagt R. Stattdessen hätten sie ihm einfach eine Windel angelegt. „Irgendwann hat er es dann eben einfach laufen lassen.“

Eines Tages, als der Sohn seinen Vater im Heim besuchte, sei sein Gesicht mit blutenden Wunden übersät gewesen. „Die Pflegerin sagte, sie habe ihn nass rasieren wollen, aber er habe sich gewehrt.“ An diesem Abend, sagt R., habe er zu Hause hemmungslos geweint. „Warum macht man dann einfach weiter, wenn der alte Mensch Angst hat, sich wehrt und überall blutet? Das ist doch Körperverletzung, oder nicht?“, fragt er.

Auch Sylke B. holte ihren Vater vergangenes Jahr dort heraus. „Mein Vater war demenz-krank, und wenn man diese Krankheit hat, stellt man eben 30-mal hintereinander dieselben Fragen“, sagt sie. In diesem Heim seien die Pfleger, trotz Ausbildung, damit wohl nicht klargekommen. „Die waren teilweise so genervt von ihm, dass sie ihn im Rollstuhl so rumgestoßen haben, dass er fast rausgefallen ist, und angemotzt haben sie ihn auch.“ Als „dämlich“ hätten Pfleger den Vater ihr gegenüber bezeichnet. Dabei war er nur krank.

Zehnmal pro Woche Beschwerden

Auch Pflegeexperte Leopold sagt, das Verhalten der Kinder von Stephan M. sei durchaus typisch gewesen. Seiner Einschätzung nach weist nichts darauf hin, dass Doris M. – die einen Doktortitel hat und eine gute Stelle im öffentlichen Dienst – wenig umgänglich sei oder besonders renitent. „Man kann vier Phasen unterscheiden, die Angehörige von Pflegebedürftigen in Heimen durchlaufen.“

In der ersten Phase, sagt Leopold, seien die meisten Angehörigen von schlechtem Gewissen geplagt, weil sie die Pflege selbst nicht oder nicht mehr schaffen – und ließen sich daher nur selten im Heim blicken. „Bei Pflegekräften entsteht dadurch vielleicht der Eindruck, der alte Mensch sei der Familie im Grunde egal.“ Angehörige, die öfter zu Besuch kämen, mischten sich dann irgendwann zunehmend mit Fragen und Forderungen in die Pflege ein. „Die Pflegekräfte empfinden das häufig als besserwisserisch“, sagt Leopold.

In Phase 3 kämen viele unzufriedene Angehörige zu dem Schluss: „Ich kann reden, was ich will, es ändert sich doch nichts.“ Dann folge Phase 4: „Da will man dann einfach keinen Dialog mehr. Diejenigen, die bis dahin noch nicht resigniert haben, kommunizieren dann nur noch schriftlich mit dem Heim.“

In einem in die Jahre gekommenen Büroturm im Bahnhofsviertel, umgeben von Sexshops und Ein-Euro-Läden, hat die Verwaltung für Soziales ihre Büros. Im Büro des Presse-sprechers, oben im 15. Stock, sitzt inmitten eines Waldes aus Topfpflanzen der Mann, der dafür zuständig ist, dass 6000 Heimbewohner in der Stadt einen menschenwürdigen letzten Lebensabschnitt verbringen. Martin Stöver, graue Koteletten, Hornbrille, grün-braune Anzugjacke und Jeans – der Leiter der Heimaufsicht.

„Wir bekommen etwa zehnmal pro Woche Beschwerden über Pflegemängel“, sagt Stöver. Besonders häufig gehe es dabei um „strukturelle Gewalt“, also Bedingungen, unter denen die Würde der alten Menschen nicht mehr gewährleistet sei: Essen wird hingestellt und unangetastet wieder abgeräumt, weil niemand Zeit hatte, dem Alten das Essen zuzu-reichen; urinnasse Hosen oder Betten über Stunden; Fenster, die selbst auf Bitten niemals geöffnet werden. „Man muss allerdings auch sagen, dass manche Angehörige sehr überhöhte Anforderungen an die Einrichtungen stellen“, sagt Stöver. Vieles kläre sich schon durch einen Anruf im Heim. Immerhin alle zwei Monate schalte die Heimaufsicht allerdings auch die Staatsanwaltschaft ein.

Oder sie bringe das Heim dazu, die Klärung durch eine Selbstanzeige einzuleiten. Die Empfehlung sei in der Regel verbunden mit der Ankündigung, dass andernfalls die Heimaufsicht die Staatsanwaltschaft einschalten müsse. „Manche nennen das ‚Beratung mit vorgehaltener Pistole'“, sagt Stöver und grinst. So lief es auch im Fall von Familie M.: In einem Krisengespräch stellte die Heimaufsicht den Betreiber vor die Wahl: Entweder ihr geht selbst auf die Staatsanwaltschaft zu oder wir tun es.

Kein eindeutiger strafrechtlicher Beleg

Etwa zehn Minuten zu Fuß von Stövers Büroturm entfernt hat die Staatsanwaltschaft ihren Sitz, im liebevoll renovierten Innenhof des historischen Landgerichts in der Innenstadt. Es ist ein warmer Sommertag, Staatsanwalt Frank Passade hat die Jalousien vor seinem Bürofenster halb heruntergelassen. Auf dem Tisch vor ihm liegt die Akte M. Darin sind die Zeugenaussagen von Doris M. und ihrer Geschwister abgeheftet, die der vier Pfleger, gegen die ermittelt wurde, außerdem das Gutachten einer Fachärztin für Gerontologie. Auf ihm basiert die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen gegen die Pfleger einzustellen.

Die Gutachterin, sagt Passade, habe sich die Fotos von Stephan M.s Verletzungen angesehen, habe die gesamte Ermittlungsakte vorgelegt bekommen inklusive dessen Krankenakten. „Sie kam zu dem Schluss, dass die Verletzungen des Herrn M. nicht unbedingt durch strafrechtlich relevante Gewalt entstanden sind“, sagt der Staatsanwalt. M. habe gerinnungshemmende Medikamente genommen, da bildeten sich leichter blaue Flecken. Dazu komme, dass in der Pflege nun einmal häufiger feste Handgriffe ange-wendet werden müssten. Das gelte insbesondere bei bettlägerigen Patienten, wenn diese gedreht oder aufgerichtet werden müssen und sich dagegen sträubten – zum Beispiel wegen einer Krankheit wie Demenz.

Passade sagt, auch bei den anderen Punkten aus dem Protokoll der Tochter habe die Sachverständige keinen eindeutigen Beleg für strafrechtlich relevante Pflegefehler feststellen können. Weder der Vorwurf, dass wichtige Medikamente immer wieder vergessen worden sein sollen, sei laut dem 118 Seiten langen Gutachten relevant noch die wunden Stellen im Schambereich, die laut der Pfleger im neuen Heim nur entstehen können, wenn jemand tagelang nicht gewaschen wird. Was ist mit der seelischen Gewalt? Der Staatsanwalt schüttelt den Kopf. „Schwierig, schwierig“, sagt er. Seelische Gewalt sei viel schwieriger zu beweisen. Man könne auch fast nie eindeutig sagen, wann die Grenze zu strafbarem Verhalten, zum Beispiel Nötigung, überschritten wurde.

Dann sagt der Staatsanwalt noch einen wichtigen Satz: „Es fällt auf, dass die Kinder ihren Vater nicht früher aus der Einrichtung geholt haben, obwohl sie die Zustände als so schlimm erlebt haben.“ Auch wenn das auf die Entscheidungsfindung selbstverständlich keinen Einfluss gehabt habe.

Es ist dasselbe Argument, das auch der Geschäftsführer der Heimkette verwendet. Ein Totschlagargument. Ist der alte Mensch, der nicht rechtzeitig das Heim verlässt, also selbst schuld, wenn er brutal angefasst wird? Leopold und andere Pflegeexperten sagen, die meisten Angehörigen handeln so wie die M.s: Sie holen den Pflegebedürftigen wenn überhaupt erst dann aus dem Heim, wenn die Alarmglocken schon laut schrillen. Nur, wer selbst einen Vater oder eine Oma im Altenheim hat, kann wahrscheinlich verstehen, wie schwer alten Menschen ein solcher Umzug fällt.

Über die Erzählungen von Doris M. und Brigitte K. in der Bar am Bahnhof ist es später Abend geworden. K., die selbst Schwesternhelferin ist, sagt, den Angestellten in diesem Heim würde es mal ganz gut tun, sich selbst in die Situation eines hilflosen Menschen zu versetzen. „Sie sollten sich reihum mal die Augen verbinden und sich von den Kollegen versorgen lassen. Da würde wohl einigen so manches klar.“ Ihre Schwester sagt, ihr hätte es gereicht, ein einziges Mal von einem der Pfleger zu hören: Es tut uns leid, dass ihr Vater wund gelegen ist, dass er die blauen Flecken an der Schulter hat.

Die Schwestern sagen, trösten könne sie nur der Gedanke an das letzte Dreivierteljahr im Leben des Vaters. Im neuen Heim, in das die Geschwister ihn brachten, öffneten sich nach ein paar Tagen seine Hände wieder, die offenen Stellen an der Haut heilten. „Er sprach sogar wieder“, sagt Doris M., „und zwar, als eine Pflegerin ihm Essen brachte und sich geduldig zu ihm setzte. Da sagte er: ‚Danke!'“

Quelle: WeltOnline vom 17.09.2013

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9 comments on “Pflegeheime in Deutschland: "Lassen Sie ihn, der liegt doch schon im Sterben"

  1. Das alles haben wir denen zu verdanken, die das traditionelle Familienbild zerstört haben.
    Als die Menschen früher in Großfamilien gelebt haben, gab es sowas nicht. Aber jeder muß heute eine eigene Wohnung haben und für sich allein leben, da ist dann kein Platz für die Eltern mehr.

    Leute, (wenn ihr könnt!) macht eine Haushaltsauflösung und zieht zurück in das Haus eurer Eltern.

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