Psychopolitik: Spiel den Idioten!

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Krise der Freiheit – Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen Machttechniken: Einmal mehr legt dieses Buch den Finger in die Wunde der modernen Gesellschaft, die bloß noch aus einer Masse vereinzelter Subjekte besteht, von denen jedes einzelne glaubt, sich von äußeren Zwängen befreit zu haben. Es zeigt, dass dies ein folgenschwerer Trugschluss ist.

Denn an die Stelle von Fremdzwängen sind inzwischen die inneren Zwänge getreten, die uns dazu auffordern, unser Ich als fortlaufendes, unabgeschlossenes Projekt zu begreifen. Die neue Freiheit des Könnens aber ruft nur andere Zwänge hervor. Das scheinbar grenzenlose Können hat die alten Gebote und Verbote abgelöst. Der Imperativ der Selbstverwirklichung ist jedoch viel gnadenloser als das Sittengesetz. Denn dessen Ideal ist das sich selbst ausbeutende Leistungssubjekt, das sich eigens Gebote zur Optimierung seines selbst auferlegt ohne zu verstehen, dass am Ende nur seine totale Vereinzelung und Unfreiheit übrig bleibt. Gemeinsames Handeln in dieser Gesellschaft wird nahezu unmöglich. Jeder kleine Rückschlag im Projekt der Selbstoptimierung wird als Katastrophe wahrgenommen und führt zur Aggression gegen sich selbst.

Versagen in der Leistungsgesellschaft produziert Schuldgefühle, die die Freiheit und letztlich auch die Verantwortungs-fähigkeit des Einzelnen zerstören. Im System der Leistungsimperative, der Effizienzsteigerung und der unbegrenzten Möglichkeiten ist keine Entschuldung mehr möglich. Dieses unerbittliche System produziert nur noch politisch interesselose Subjekte, die in ihrer Passivität verharren, während die Industrie die Psyche als letzte Produktivkraft entdeckt.

Die neue Psychopolitik fokussiert die Kommunikation und den Konsum der Individuen. Jede Kommunikation wird kontrolliert, jeder überwacht sich – freiwillig – jederzeit selbst. Der Autor Byung-Chul Han sagt in Anlehnung an Bentham treffend: »Jeder ist das Panoptikum seiner selbst.«

Wahres Glück hingegen sei nur im Überschüssigen und Überflüssigen zu finden, meint Han. Das Problem ist, dass heute selbst der Überschuss, das heißt Freizeit und Spiel kapitalisiert sind. Alle sind Unternehmer und Überwacher ihrer selbst. Die Menschen machen aus sich selbst reine Datenpakete. Big Data aber kennt keinen Schluss und keinen Abschluss. Big Data kennt nur ein Ideal, und das ist die Addition. Das Augenschließen gelingt dem Einzelnen allenfalls im Zustand der Erschöpfung. Es ist aber längst kein kontemplativer Akt mehr. Wir werden zusehends zukunftsblind, so Han. Gibt es einen Ausweg?

Mit Gilles Deleuze empfiehlt uns Han: »Faire l’idiot«, spielt den Idioten. Das ist die erste und letzte Funktion der Philosophie und die einzige Möglichkeit, sich von den inneren Zwängen wieder zu befreien. Der Idiot ist für Han (wie zuvor schon für Spinoza, Deleuze und Botho Strauss) der unverbundene, nicht vernetzte, nicht informierte Mensch, eine Art moderner Häretiker, also einer, der über eine freie Wahl verfügt und vom Zwang zur Konformität befreit ist. Wir müssen, so Han, wieder mehr unser häretisches Bewusstsein schärfen, so dass am Ende der idiot savant, der wissende Idiot hervortritt, der mit einer einfachen »Öffnung zum Licht« (Botho Strauss) den neuen Machttechniken etwas zutiefst Humanes entgegensetzt.

Han greift in der »Psychopolitik« insofern auf seine Analysen der »Müdigkeitsgesellschaft« und der »Agonie des Eros« zurück, bietet aber, anders als in den vorangegangenen Essays, eine erfrischende Lösung für die von ihm beschriebenen Probleme an. Sie erinnert ein wenig an Bartlebys mehr als sympathisches Diktum »I would prefer not to.« Es lohnt sich ganz ohne Zweifel, hin und wieder aus der Schusslinie zu treten und sich den inneren Zwängen, die denen der äußeren so erschreckend gleich geworden sind, zu entsagen: »Heute spiele ich den Idioten!«

Leseprobe:

Ausbeutung der Freiheit

Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein. Episode heißt Zwischenstück. Das Gefühl der Freiheit stellt
sich im Übergang von einer Lebensform zur anderen ein, bis sich diese selbst als Zwangsform erweist. So
folgt auf die Befreiung eine neue Unterwerfung. Das ist das Schicksal des Subjekts, das wörtlich Unterworfensein
bedeutet.

Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes,
neu erfindendes Projekt sind. Dieser Übergang vom Subjekt zum Projekt wird vom Gefühl der Freiheit begleitet.
Nun erweist sich dieses Projekt selbst als eine Zwangsfigur, sogar als eine effizientere Form der Subjektivierung
und Unterwerfung. Das Ich als Projekt, das sich von äußeren Zwängen und Fremdzwängen befreit zu haben glaubt, unterwirft sich nun inneren Zwängen und Selbstzwängen in Form von Leistungs- und Optimierungszwang.

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Wir leben in einer besonderen historischen Phase, in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit
des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht.
Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der vom Können ausgeht. Wir befinden uns somit in einer paradoxen Situation. Die Freiheit ist eigentlich die Gegenfigur des Zwanges. Frei sein heißt frei von Zwängen sein. Nun erzeugt diese Freiheit, die das Gegenteil des Zwanges zu sein hat, selbst Zwänge. Die psychischen
Erkrankungen wie Depression oder Burnout sind der Ausdruck einer tiefen Krise der Freiheit. Sie sind ein pathologisches Zeichen, dass heute die Freiheit vielfach in Zwang umschlägt.

Das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, ist in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es ohne den Herrn sich freiwillig ausbeutet. Ihm steht kein Herr gegenüber, der ihn zur Arbeit zwingt. Es verabsolutiert das bloße Leben und arbeitet. Das bloße Leben und die Arbeit sind zwei Seiten einer Medaille…

Byung-Chul Han
Psychopolitik
Neoliberalismus und die neuen Machttechniken
S. Fischer
€ (D) 19,99 | € (A) 20,60 | SFR 28,90
978-3-10-002203-5

Quellen: PublicDomain/glanuundelend.de vom 22.12.2014

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